Darauf wurde ich vor Kurzem durch einen englischsprachigen Blog-Artikel aufmerksam.
(New post on Christel T.'s Blog)
Die Washington Post hatte im Oktober eine Langzeit-Studie vorgestellt, die überraschenderweise zeigte, dass Kinder aus materiell armen Familien sich viel besser entwickeln, wenn den Familien
etwas mehr Geld zur Verfügung gestellt wird.
Der Plan war eigentlich, materiell arme Kinder über einen längeren Zeitraum bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu beobachten, doch dann ergab sich für etwa ein Viertel der beobachteten Gruppe
ein finanzieller Glücksfall. Dies führte zu dem überraschenden Resultat.
In einem anderen Pilotprojekt konnten erstaunliche Erfolge erzielt werden, indem man Wohnungslose fragte, was sie brauchen, und es ihnen kaufte.
Unter dem Namen “Housing first” wird ein Ansatz verfolgt, der von der exotischen Voraussetzung ausgeht, dssß Wohnungslosigkeit davon weggeht, dass die wohnungslose Person eine Wohnung bezieht.
Anfang November berichtet die FAZ über den auch sehr überraschenden Zusammenhang zwischen starken Geldsorgen und der üblen Laune, die eine unter diesen Umständen schon mal befallen kann.
Pardon, psychische Störung.
Der Wirtschaftswissenschaftler Greg Duncan, den die FAZ in diesem Zusammenhang auch erwähnt, hat sich vorgenommen, eine Lücke in der Forschung zu schließen: Bisher weiß man zwar, dass Kinder aus
armen Familien viel schlechtere Bildungschancen haben als Kinder aus reichen Familien, aber man weiß offenbar nicht, ob es die Bildungschancen von Kindern verbessert, wenn man ihren Eltern halt
einfach Geld gibt.
Steht so in der Los Angeles Times.
Also hat er sich vorgenommen, einigen materiell armen Müttern einfach Geld zu geben, und die Entwicklung ihrer Kinder zu beobachten.
Eine Kontrollgruppe soll fast kein Geld bekommen, und die Entwicklung von deren Kindern soll mit der der anderen verglichen werden.
Die FAZ berichtet auch über “eine vor zwei Jahren erschienene Studie in der Zeitschrift ‘Science’, für die Harvard-Forscher Probanden über eine hohe Rechnung nachdenken ließen und ihnen dann
Intelligenztests vorlegten. Diejenigen, die arm oder verschuldet waren, schnitten deutlich schlechter ab, ihre kognitiven Fähigkeiten waren absorbiert von den materiellen Bedrohungen, die sie
zuvor gedanklich plagten.
Spätestens seit diesen Arbeiten ist klar, dass Armut nicht spurlos an der Psyche des Menschen vorbeigeht.”
Der Umkehrschluss, dass die Leute sich wieder besser fühlen, wenn sie (ein bisschen) mehr Geld haben, wurde - laut der FAZ - offenbar als ganz gewagte These von schwedischen WissenschaftlerInnen
aufgestellt und in einem Experiment überprüft: Sie haben einigen “psychisch kranken” Menschen ein kleines Taschengeld zusätzlich gegeben, und anderen nicht. Nach einem halben Jahr waren die mit
dem Taschengeld dann besser drauf als die ohne.
Quelle surprise, ich sag es mal der Abwechslung halber in einer anderen Sprache.
Zum Glück belässt es die FAZ zum Abschluß nicht bei der ratlosen Frage “Was also tun nun mit diesem Ergebnis?”, sonst wäre ich echt sauer geworden.
Sondern sie zitiert die Schlußfolgerung der letztgenannten Studie:
“Symptome wie Angst oder Depressivität seien möglicherweise in vielen Fällen gar keine Symptome der diagnostizierten Erkrankung, sondern schlicht Reaktionen auf die wirtschaftlich schwierigen
Lebensumstände.”
Das hätte manch eine materiell arme Person der FAZ auch verraten können.
Warum?
Warum sind diese Dinge Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, Meldungen, Nachrichten, und nicht die billigsten Binsenweisheiten, Selbstverständlichkeiten?
Warum müssen diese Dinge überhaupt erst wissenschaftlich bewiesen werden, und kommen dann ganz überraschend?
Die kurze Antwort ist: “Ja weil man arme Menschen so ausgrenzt und nicht ernst nimmt und ihnen nie richtig zuhört.”
Und, eine weitere Überraschung, die kurze Antwort greift viel zu kurz.
Der Grund, warum man das erst wissenschaftlich erklären und beweisen muss, ist, dass mit Macht und massiv der Öffentlichkeit gegenüber etwas anderes behauptet wird.
Es ist keine Erfindung des Neoliberalismus, dass materielle Armut eine Eigenschaft armer Personen ist, statt dass es ihre finanzielle Situation ist. Diese Vorstellung kommt aber dem
Neoliberalismus sehr entgegen und wird heute entsprechend gefördert und verbreitet.
Wenn die Wirtschaft derart asozial ist, dass sie massenhaft Armut und Wohnungslosigkeit verursacht, könnte ja jemand auf die Idee kommen, dass die Wirtschaft sich den Interessen der Menschen
unterordnen muss statt umgekehrt.
Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass materielle Armut nicht von der Wirtschaft verursacht wird, sondern von irgendwem sonst. Die Diskriminierung und soziale Ausgrenzung von Armen, wie
gesagt: an sich kein neues Patent, kommt da gerade recht, dann können sie - wir - selber schuld sein.
Wir sind halt zu doof, einen Job zu finden, weil wir nicht wissen, wie man eine ordentliche Bewerbung schreibt oder wie man morgens aufsteht, und zusätzlich zu unseren Bildungsmängeln kommen
unsere “sozialen” Probleme.
Wohnungslose haben verstärkt psychische Probleme? Das ist ja doppelt überraschend, wenn man bedenkt, wie belastend die Wohnungslosigkeit selbst ist, und wie belastend es ist, die Wohnung zu
verlieren.
Also sind die psychischen Probleme wohl bestimmt ursächlich für den Wohnungsverlust!
Zu den Vorurteilen kommen aber auch entsprechende Fragestellungen.
Was hält Unternehmen davon ab, Leute einzustellen? Man kann sie ja einfach mal fragen. Da sagen sie nicht: “Es stört uns, dass die Leute für ihre Arbeit richtig bezahlt werden wollen.” Vielmehr
formuliert man vornehmer: “Überzogene Gehaltsvorstellungen”.
Also sind es die überzogenen Gehaltsvorstellungen, die die Erwerbslosen in der Erwerbslosigkeit festhalten! Ja, dagegen kann man ja was machen! Jede Arbeit ist zumutbar, wer nicht spurt, wird
sanktioniert. Den armen Menschen kann geholfen werden.
Zur Wohnungslosigkeit wird, wenn überhaupt, dann gerne biographisch geforscht. Wie konnte es nur dazu kommen? Was hinten dabei herauskommt bei der Ursachenforschung, das hängt davon ab,
welche Fragen man wem stellt. Das wiederum hängt eben nicht ausschließlich von Vorurteilen ab, wär ja schlimm genug, sondern auch von wirtschaftlichen Interessen.
Wir sehen Armut als eine persönliche Eigenschaft, nicht als eine Lebenssituation.
Wir sagen: “Ich BIN wohnungslos”, statt “Ich HABE keine Wohnung”.
“Ich BIN erwerbslos”, statt “Ich HABE keine Erwerbsarbeit”.
Das große soziale Engagement gegen Armut, das es ja in der Gesellschaft gibt, wird dahingehend umgeleitet, dass an dieser angeblichen persönlichen Eigenschaft materiell armer Menschen
herumgearbeitet wird.
Man stelle sich vor, all diese wohlmeinenden Menschen würden stattdessen etwa mit Entschlossenheit gegen Gentrifizierung und Lohndumping vorgehen!
Neinnein, warum denn so aggressiv, es ist doch viel besser, für etwas als gegen etwas zu sein, nicht so negativ, denn negatives Denken ist nicht GUT für Euch!
Und JETZT kommt dazu, dass arme Menschen mundtot gemacht werden.
In diesem Frame sind wir nämlich nur zu bequem, an uns selbst zu arbeiten, und suchen die Schuld lieber bei anderen, als bei uns selbst, wenn wir moppern, dass es am Wohnungsmarkt nicht genug
Wohnungen gibt und am Arbeitsmarkt zu viel Ausbeutung und zu wenige Jobs, die man bis zur Rente durchhalten kann, ohne dauerhaft krank zu werden.
Und weil diese Erzählungen derart wirkmächtig sind, deswegen brauchen wir ganz ohne Witz eine Forschung, die beweist, daß Geld gegen finanzielle Probleme hilft.
Und wir brauchen sie, leider, wirklich.
Christel T.'s Blog.